Aurora ist aufgebrochen, um in den dichten Wäldern Alaskas Saiblinge zu fischen. An einem Ort an der Nordwestküste, wo Geisterbären seit Anbeginn der Zeit umherstreifen, macht sie zwei Begegnungen. Aber ist sie auch auf beide vorbereitet?

Angenehm und guten Tag! Herr Piscator empfindet es als ein wenig unfreundlich, würde diese Geschichte hier vorgelegt, ohne ein Wort der freundlichen Warnung. Wir sind dabei, die dunklen Geschichten des Fliegenfischens offenzulegen. Geschichten, die Frauen und Männer der Wissenschaft zweifeln lassen und Gott in Frage stellt. Sie sind die befremdlichsten Geschichten, die jemals erzählt wurden. Sie handeln von den großen Mysterien des Fliegenfischens: Fische, Fischen, das Leben und – der Tod. Ich denke, sie werden Dich erschauern lassen. Vielleicht können sie schockieren.

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Sie vermögen Dich sogar zu entsetzen. Also, wenn jemand von euch das Gefühl hat, er habe kein Interesse, seine Nerven solchen Belastungen auszusetzen, nun ist die Gelegenheit um – nun ja, wir haben Dich gewarnt.

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Der Steiger

Plioäpph! Das Geräusch vernimmt Aurora ganz deutlich. In den vielen Stunden, die sie mit ihrer geliebten Fliegenrute und den von ihr favorisierten Fliegen an Bächen und Flüssen verbrachte, hörte sie das Geräusch schon öfters. Und meistens war es ihr möglich gewesen, die Quelle des Geräusches sogar zu sehen: Ein Fisch, der sich eine Eintagsfliege oder ein anderes geflügeltes Insekt direkt von der Wasseroberfläche wegschnappt. Vorwiegend Forellen, die von unten an die anvisierte Beute schwimmen, ihr Maul aufmachen und mit dem entstehenden Sog sich den Proteinhappen einverleiben. Unweigerlich von einem Plopp-Geräusch begleitet. Mittlerweile war Aurora sogar in der Lage, anhand des Geräusches abschätzen zu können, ob es sich bei dem fressenden Fisch um ein großes oder doch eher kleines Exemplar handelt. Letztere neigen auch gern mal dazu, über das Ziel hinauszuschießen, nur um dann mit einem deutlichen Platscher wieder im Wasser zu landen.

Plioäpph! In diesem Fall, und darauf hätte Aurora ihre drei besten Maifliegenmuster gewettet, konnte es sich nur um einen großen Fisch handeln. Mit größter anzunehmender Wahrscheinlichkeit ein Saibling, denn andere Fische kamen in diesem Abschnitt des Flusses kaum vor. Dies behauptete zumindest Alyeska, ihre Fischführerin, die sich im Lager befand, um dort die Zelte aufzustellen und alles für das Abendessen vorzubereiten. Alyeska stammte aus der Region der Alaskanischen Bristol Bay, dem, wie ihr Großvater gern behauptete, Rotlachsparadies. „Großes Land“, so die Bedeutung von Alyeskas Namen in der Sprache der Eingewanderten, war mit Aurora in einem Wasserflugzeug heute Mittag in Richtung Ketchikan losgeflogen. Fünft Tage nur Fliegenfischen und keine Kommunikationsmöglichkeit mit der Zivilisation. Aurora fand die Vorstellung herrlich. Auch hoffte sie einen der seltenen Geisterbären zu sehen, von denen die Ureinwohner der Nordwestküste so häufig berichteten.

Plioäpph! „Wonach steigst du?“, fragt sich Aurora leise. Sie geht ein paar Schritte näher ans Ufer. Das Geräusch kam von ihrer Position aus betrachtet jetzt flussaufwärts. Nur waren keine verräterischen Ringe auf der Wasseroberfläche auszumachen. „Du stehst also hinter der Flussbiegung“, murmelt Aurora in ihren Schlauchschal, den sie zum Schutz vor der aufkommenden Abendkühle bis zum Nasenansatz hochgezogen hatte.

„Du kannst einfach gerade runter zum Fluss gehen, aber bleib bitte vorerst an der einen Stelle, bis ich unser Lager hergerichtet habe.“ Mit diesen Worten hatte Alyeska Aurora losgeschickt, damit diese sich die Beine nach dem Flug ein wenig vertreten konnte. Alyeska besaß viel Erfahrung in verschiedenen Formen der Orientierung und Navigation – Aurora nicht.

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Plioäpph! Aurora kommt es so vor, als wenn sich das Geräusch von ihr entfernt. „Du schwimmst mir nicht davon“, sagt sie, schließt die Augen, versucht ganz langsam zu atmen und wartet auf das bekannte Geräusch. Stille. Lediglich der schmale Fluss gibt ein leichtes Plätschern von sich. Und dann hört sie das „Plioäpph“ wieder – deutlich, aber entfernter. Dem Geräusch nachgehend, läuft Aurora am Ufer entlang, und um die Biegung. Sie sieht jetzt, wie der Fluss an dieser Stelle sich von der Kurve in einen langen geraden Abschnitt streckt. Die tief stehende Sonne, mittig über dem schmalen Fluss verweilend, blendet Aurora. Um besser sehen zu können, stellt sie sich hinter einen Baumstumpf, der sie um wenige Fuß überragt. Jetzt, im Gegenlicht der sinkenden Sonne, macht sie aus, wie einige Köcherfliegen über den Fluss hinwegflattern und hier und da über die Wasseroberfläche skaten, wobei sie den Wasserfilm leicht furchen.

Plioäpph! Eine der Köcherfliegen, die nur für einen Bruchteil einer Sekunde auf der Wasseroberfläche saß, verschwindet in einem Sogtrichter. Von diesem Punkt sich ausbreitende Ringe zeigen Aurora unmissverständlich die Position des Fisches an. „Ha, hab ich dich“, ruft Aurora lauter aus, als sie es sich in dieser ruhigen Szenerie, gerahmt von moosbehangenen Baumriesen, zugestehen will. Was folgt, ist angespanntes Warten. Offenbar ist ein See nicht allzu weit entfernt, denn Aurora hört das klagende „Aaahooh“ eines Prachttauchers. Dann – wieder kein Tiergeräusch zu vernehmen, nur das Murmeln des Flusses. Sie holt eine ihrer beiden Fliegendosen aus der Brusttasche ihrer Watjacke hervor. Die Dose, in der sie alle ihre Trockenfliegen aufbewahrt. Schnell identifiziert sie das vermeintlich passende Muster: eine Köcherfliegenimitation mit Reh- und Elchhaar. „Ein wenig Schwimmmittel drauf und das Ding schwimmt für Stunden wie ein Korken“, behauptete ihr Großvater immer. Gerade als sie die Fliege ans Vorfach knotet, knackt und raschelt es hinter ihr in den Büschen. Aurora hält die Luft an, sie spürt ihr Herz schneller pumpen und ein Rauschen setzt in ihren Ohren ein. Nach einer nahezu unerträglichen Phase, in der nichts geschieht, fragt sie schließlich: „Alyeska?“ Keine Reaktion. Aber ein unvermitteltes lautes Schnauben unterbricht die Stille und nur Sekunden später tritt ein großer, heller, cremefarbener Bär aus dem Unterholz. Den Kopf leicht von links nach rechts und von rechts nach links bewegend, kommt er auf Aurora zu. Knapp vier Meter vor ihr bleibt der Bär stehen und richtet sich, die Unterlippe weit vorgeschoben, zu seiner vollen Größe auf. Aurora ist in diesem Moment vollkommen paralysiert, selbst ihre Atembewegung setzt kurzfristig aus. Nachdem der Atemreflex sie zum Einatmen zwingt, bringt sie mit dem Ausatmen ein fast nur gehauchtes „Du bist ein Geisterbär?!“ heraus. Der lässt sich zurück auf seine Vorderpranken fallen, zieht hörbar Luft durch seine Nase ein und schlägt seine Zähne kräftig aufeinander. Dann, Aurora blickt mittlerweile zum Boden, bemerkt sie, wie die riesigen Tatzen sich nach rechts fortbewegen. Als sie ihren Kopf hebt und in die Richtung des Bären schaut, ist dieser in dem aufkommenden Nebel und im Schatten des Waldes fast verschwunden.

Für Minuten wagt sie es nicht, sich zu bewegen, ja auch nur zu blinzeln. Angestrengt versucht sie zu hören, ob der Bär wieder umkehrt. Doch sie bleibt allein. Es bleibt ruhig und auch Aurora wird wieder ruhiger, als auf einmal ein „Plioäpph“ ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Fluss lenkt. „Dich habe ich mir jetzt auch verdient“, und mit dieser, der Selbstaufmunterung dienenden Feststellung, macht Aurora sich zum Werfen bereit. Allerdings ist die Distanz zwischen ihr und den auslaufenden Ringen an der Wasseroberfläche deutlich größer geworden. Da in Bezug auf Genauigkeit und Technik gute zehn Meter ihre persönliche optimale Wurfdistanz sind, folgt sie dem Fluss weiter abwärts. Da auch der Nebel immer dichter wird, versucht Aurora näher an den Fisch zu kommen. Mittlerweile werfen die Bäume lange Schatten über das Wasser und die tiefer stehende Sonne färbt die Nebelschwaden, dort wo die Lichtstrahlen sie noch erreichen, in ein intensives Orange.

Aurora stellt fest, mit der Abnahme des Sonnenlichts auf dem Wasser, nimmt auch die Zahl der herumfliegenden Köcherfliegen ab. Sie überlegt gerade noch zum Lager zurückzukehren, als unvermittelt der Fisch keine sechs Meter vor ihr „buckelt“. „Komm zu Mama“, ordnet sie grinsend an und präsentiert ihre Trockenfliege perfekt. Doch ihre Imitation bleibt unangetastet, allerdings verschwindet eine der letzten noch auf dem Wasser treibenden Köcherfliegen mit dem so vertrautem Geräusch, nur ein paar Meter von ihrer jetzigen Position entfernt, von der Wasseroberfläche. Und wieder folgt Aurora dem Fisch und wieder wirft sie diesen erneut an. Und wieder verschmäht dieser ihre Fliege, durchbricht dafür aber erneut, mindestens fünfzehn Meter weiter flussaufwärts, die dunkle Wasseroberfläche. Wirklich sehen kann Aurora es nicht mehr, zu nebelig ist es geworden. „So lange es nicht absolut dunkel geworden ist, besteht für mich noch eine Chance“, stellt sie für sich fest und geht dem Fisch weiter nach …

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„Aurora? Aurora, wo bist du?“. Seit mehr als drei Stunden sucht Alyeska bereits nach ihrer Kundin. Anfangs lief sie flussabwärts, drehte nach ein paar Kilometern ohne Anzeichen von Auroras Anwesenheit um, bis sie tatsächlich am Ufer die Abdrücke von Frauenwatschuhen findet. Die Spuren führten jedoch an einer Stelle in den Fluss, ohne an anderer Stelle wieder aus diesem zu kommen. Vom lauten Rufen schmerzen bereits ihre Stimmbänder. In der rechten Hand das Pfefferspray haltend, dreht sie sich am Ufer einmal komplett um die eigene Achse. Ihre Stirnlampe erhellt die direkt vor ihr stehenden Nebelschwaden, ohne diese aber zu durchdringen. Frustriert, erschöpft und mit einem lauten Wutschrei geht Alyeska auf die Knie.

„Du scherzt,“ hatte sie Asher ungläubig gefragt, als er das Ziel des Trips erfuhr. Asher, der fast alle Wasserflugzeuge in der Region mit Treibstoff versorgte, war aufgebracht, nachdem Alyeska ihm die Koordinaten genannt hatte. Für sie war diese offensichtliche Aufgebrachtheit neu an ihm. Asher, eigentlich die Personifizierung von Unerschütterlichkeit. „Tu es nicht! Ich glaube sicherlich nicht an diesen Mythenquatsch der Ureinwohner, aber woran ich glaube, ist die Tatsache von bereits fünf vermissten Personen. Alle wollten zum Fliegenfischen und alle sind spurlos dort verschwunden, wo du jetzt auch hinfliegen willst.“

Weinend erinnert Alyeska sich an die Auseinandersetzung mit Asher. Und während ihr die Tränen die Wangen herunterlaufen schluchzt sie: „Sechs. Jetzt sind es sechs Personen“.

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31. Oktober 2022

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